Haarmann & Hindenburg

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Haarmann

Seit 1918 und vor allem in den Jahren 1923/24 hatte der mehrfach vorbestrafte Schankwirt, Altkleiderhändler und Polizeispitzel Friedrich Haarmann mindestens 27 junge Männer auf bestialische Weise getötet und die Leichen anschließend zerstückelt in die umliegenden Flüsse und Seen geworfen. Haarmanns jüngste Opfer war gerade einmal 13 Jahre alt. Lessing war in dem Fall als psychologischer Sachverständiger vorgesehen, doch auf Wunsch des Pflichverteidigers wurde dieser Gutachterposten kurzerhand wieder gestrichen wurde, so daß Lessing den Prozeß lediglich als Beobachter im Zuschauerraum verfolgen konnte.

Seine psychologisch-ärztlichen Eindrücke beschränkten sich somit zwangsweise auf seine Zeitungsartikel - er schrieb unter anderem für das “Prager Tagblatt” -, in denen er schon früh auf die Schwachstellen der Verfahrensführung aufmerksam machte. "Zweifelhafte Zeugen" würden angehört, und "offenkundige Falschaussagen" könnten ohne weiteres berichtigt werden. Lessing kritisierte ferner die Ermittlungsarbeit der Polizei, in dem er in seinen Artikeln offen fragte, wie es möglich sei, "daß den zahlreichen frühen Hinweisen aus der Bevölkerung kaum nachgegangen" wurde, daß der mehrfach vorbestrafte und seit 1896 wegen sexueller Vergehen an Knaben bekannte Haarmann nicht nur von der Polizei selbst für Spitzeltätigkeiten geworben sondern auch noch eingestellt wurde. Warum schwieg sich die Hausgemeinschaft über die Vorkommnisse in der Roten Reihe Nr. 2 aus, in der Haarmann eine Dachkammer gemietet hatte, obwohl sie nach der Verhaftung Haarmanns zu Protokoll gaben, “es sei ihnen aufgefallen, daß Haarmann oft mit Fleischpaketen das Haus verließ, aber nur selten mit Paketen ankam”?

Trotz der vorliegenden ärztlichen Atteste, die bei Haarmann “unheilbaren Schwachsinn” diagnostizieren, und trotz der Tatsache, daß Haarmann Dauergast in Heilanstalten und Gefängnissen war, stufte ihn das Gericht als zurechnungsfähig ein.
Lessing deckte in seinen Artikeln nicht nur die rechtlichen Mißstände auf sondern wollte den Fall einer breiten Öffentlichkeit verständlich machen. Wie in seinen Soldatennovellen wandte er sich auch bei den Opfern der Mordserie gegen ihren Untergang in einer Zahlenreihe und schrieb nach Gesprächen mit den Angehörigen die detaillierte Geschichte zu jedem einzelnen Opfer. Auch die Täterbiographie ließ Lessing für seine Analyse nicht aus, doch seine Intention wurde nicht von allen verstanden. Von einigen aufgebrachten Bürgern mußte sich Lessing den Vorwurf anhören, er wollte die Perversität eines Massenmörders verstehen und rechtfertigen.
Erst in der Obduktion bestätigten sich eine von Lessings Vermutungen, wonach neben dem zerfahrenen sozialen Umfeld Haarmanns ein geistiger Defekt für das perverse Täterprofil mitverantwortlich zu machen war: Ein Teil der Hirnhaut war nach einer Entzündung mit Haarmanns Kopfdecke verwachsen. Das Gericht wollte sich jedoch nicht weiter von einem Halbmediziner und Philosophieprofessor belehren lassen, der neben der Kritik an der Arbeit des Gerichtes auch die Gesellschaft und Behörden anprangerte und für die Morde Haarmanns mitverantwortlich machte. Am 10. der insgesamt 14 Verhandlungstage beschloß das Schwurgericht den Ausschluß des lästig gewordenen Journalisten Lessing, um wenigstens den Zeitplan einhalten zu können; das Gericht hatte die Aufgabe “einen für ganz Europa beunruhigenden Kriminalfall ohne öffentliches Ärgernis gemäß §263 der Reichsstrafprozeßordnung unter Vermeidung der Bloßstellung von Ämtern und Behörden innerhalb 12-14 Verhandlungstagen rasch zu erledigen”.
Am Morgen des 19. Dezember 1924 wurde Friedrich Haarmann zum Tode verurteilt. Das Todesurteil gegen den der Mittäterschaft bezichtigten jugendlichen Freund Haarmanns, Hans Grans, wurde im letzten Moment in eine 12jährige Freiheitsstrafe umgewandelt. Der “Justizmord” (Lessing) wurde somit gerade noch abgewandt, denn Haarmann hatte Grans - wie Lessing bereits im Laufenden Prozeß vermutet hatte - aus Rache für die nicht erwiderte Liebe in seinem Geständnis belastet, und er war der einzige Belastungszeuge gegen Grans.

Nach der Urteilsverkündung begann er sogleich mit der Ausarbeitung seiner Prozeßaufzeichnungen, aus denen 1925 das Buch “Haarmann - Die Geschichte eines Werfolges” hervorgeht. Die Äußerungen der Angehörigen bestätigen die allgemeinen Versäumnisse im Verfahren gegen Haarmann.

“Es war kein einziger darunter, den die abgeschlossene Verhandlung Genugtuung oder Gerechtigkeit hatte fühlen lassen. Es war kein einziger darunter, dem die Frage: »Wie konnte uns das geschehen? Wodurch? Warum? Wozu?« irgendwie klarer geworden wäre. Nichts als ein Haufen gallebitterer, verworrener, dunkel grollender und im tiefsten gekränkter Menschlichkeiten war aus diesem Prozeß hervorgegangen”.

Verbittert über die jegliche Moral und Verantwortung entbehrenden Zeitgenossen schlägt Lessing vor, im Gedenken an die toten Kinder einen Findling in der Stadt aufzustellen, der die Inschrift trägt: “Unser aller Schuld”. Die entsetzten und über Lessings Anmaßungen zutiefst empörten Bürger hatten sich noch nicht richtig beruhigt, da machte der unbequeme Philosoph erneut von sich reden, und diesmal sollte es für Lessing ernsthafte Konsequenzen haben.

 

Hindenburg

      "Warum nun habt ihr uns Kinder erzogen im Geiste der Denker? Wenn doch alles,
      was sie in uns säten - Humanität, Weltbürgertrum, Toleranz, Universalismus,
      Pazifismus - nun von gestern auf heute bloßes Schulgeschwätz sein soll;
      Wo immer nur recht behält, wer die stärkste Faust hat oder die lauteste
      Lunge oder das begehrteste Geld oder die tödlichste Kanone!?"

      (Lessing, Deutschland, 1933)

Nachdem der Reichspräsident Friedrich Ebert unerwartet verstorben war, standen im April 1925 Neuwahlen für das höchste Amt der Weimarer Republik an. Der erste Wahlgang im März des Jahres endete ohne Ergebnis, da sieben Kandidaten sich die Stimmen gegenseitig wegnahmen und keiner die erforderliche Mehrheit hinter sich vereinigen konnte. Im zweiten Wahlgang traten drei Kandidaten gegeneinander an: der ehemalige Reichskanzler und Zentrumspolitiker Wilhelm Marx, Ernst Thälmann von der KPD und das väterliche Symbol deutschen Kriegsheldentums Paul von Hindenburg. Der 78jährige Oberbefehlshaber a.D. lebte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges von der Politik zurückgezogen in einem von der Stadt Hannover geschenkten Haus an der Eilenriede. Für den zweiten Wahlgang hatten ihn die vereinigten Rechtsparteien zur Kandidatur überreden können. Am Tage der Wahl, dem 25. April 1925, veröffentlichte Lessing einen Artikel im “Prager Tagblatt”, in dem er eine beachtlich unverblümte Charakterisierung Hindenburgs vornimmt. Seine ganzes Leben lang habe der “getreue Eckart” nur zu dienen gelernt, der sich nur so lange als braver Hort und Schirm erweise, als ein kluger Mensch daneben stünde, der ihn apportieren lehre. Eine Zukunft Deutschlands unter dem Reichspräsidenten Hindenburg sah Lessing dementsprechend finster: “Man kann sagen: »Besser ein Zero als ein Nero«. Leider zeigt die Geschichte, daß hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht”.

Als der “Hannoversche Kurier” den Artikel einen Tag vor dem geplanten Festumzug für den gewählten Hindenburg in gekürzter Form und mit empörten Kommentaren versehen veröffentlichte, ließ die Reaktion der Bürger nicht lange auf sich warten. Wogen der Entrüstung stürzten Lessing in Hannover entgegen, weil er sich an dem Mythos Hindenburg vergangen hatte. Für viele Deutsche versinnbildlichte der “im Feld unbesiegt[e]” Oberfeldmarschall die ruhm- und siegreiche Vergangenheit, nach der man sich auf Grund der Versailler Verträge und der beständigen, das Selbstbewußtsein Deutschlands am Boden haltenden Kontrolle durch die Allierten um so stärker zurücksehnte. Die Professorenschaft der Technische Universität Hannover war national bis rechtsliberal eingestellt. Die Studenten waren “die Offiziere der Wirtschaft”; auf ihnen lag die Hoffnung all derer, die nach den schmerzlichen Territorial- und Statusverlusten des Ersten Weltkrieges an ein Wiedererstarken des Deutschen Reiches durch wirtschaftliche Macht glaubten. Die vornehmlich dem Bürgertum entstammenden Studenten waren für die nationale Anerkennung durchaus empfänglich, zumal sie die weitverbreitet Meinung teilten, wonach der Weimarer Republik die Hauptschuld an der sozialen wie politischen Misere zugeschrieben wurde. Eine große Zahl von Akademikern drängelten sich bereits auf dem Arbeitsmarkt und die Zahl der Erstsemester stieg weiter an. In Zeiten sich verfinsternder bedarf es dann eines Sündenbockes.

Die Aufrührer gegen Lessing hatten also keine Mühe, innerhalb der Studentenschaft Mitstreiter für ihre Sache zu finden. Ein Kampfausschuß wurde ins Leben gerufen, um den seit längerer Zeit verhaßten Pazifisten, Sozialdemokraten und Juden wegen seiner “unakade-mischen” Berichterstattung von der Universität auszuschließen. In einem internen Aufruf des Kampfausschusses - dem unter anderem auch sechs Kollegen Lessings und der Prorektor beiwohnten - vom 5. Juni 1925 heißt es: “Professor Dr. Lessing hat die Absicht kund getan, am kommenden Montag zu lesen; Das wird nicht geschehen!”, der Staatsgewalt dürfe kein Anlaß zum Eingreifen gegeben werden, die Hochschulausweise seien auf jeden Fall mitzu-führen. Und weiter heißt es: “Vertreter des Kampfausschusses nehmen an allen eventuellen Vorlesungen von Prof. Dr. Lessing teil!! Gezeichnet Dettmar und Poehlmann”.

Nachdem es bereits im Anschluß an den Festumzug für Hindenburg zu Ausschreitungen vor dem Lessingschen Haus in der Stolzestraße gekommen war, wurden die Störungen un auch in die Universität ausgetragen. Als Studenten die Vorlesung mit “Lessing-raus-Gesängen” stürmten und Lessing nur unter Geleitschutz des Rektors das Gebäude verlassen konnte, hatte die eine Rüge der beteiligten Studenten von Seiten des Senats zur Folge. Zehn der beteiligten Studen wurden zwangsexmatrikuliert, anstonsten zeigte man aber durchaus Verständnis. In einer Erklärung der Universität heißt, dass “[die Handlungsweise der Studenten] nicht unedlen (!) Motivationen entsprungen ist, und daß lediglich ihre Jugend sie hat über das Ziel hinausschießen lassen”.

Für die “Lessing-Fortekelgruppe” hatte sich der Einsatz gelohnt, denn Lessing reichte seine einstweilige Beurlaubung ein. Der Versuch, die Lehrtätigkeit im November wieder aufzunehmen, scheiterte an dem konstanten Protest der Studenten. Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Artikels waren die Drohge-bärden der Studenten stärker denn je. Die weiteren Ereignisse an den Montagen von Lessings Vorlesungen lesen sich wie folgt: Am 3. Mai 1926 besetzten 126 Studenten den Hörsaal, weitere Hundertschaften belagerten die Gänge. Als Lessing gemeinsam mit einigen ihm nahestehenden Studenten den Heimweg antreten wollte, kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen. Mit schwingenden Eichenknüppeln trieben die Studenten Lessing und seine Sympathisanten durch den Georgsgarten bis in ein Café. Den Weg zurück zur Trambahnhaltestelle glich einem Spießrutenlauf. Lessing flüchtete sich in die Universität, von wo aus ihm ein Taxi gerufen wurde. Eine Woche später stand dem Dozenten für seine Vorlesung ein fünfköpfiger Saalschutz zur Verfügung, doch im Anschluß daran kam es wieder zu Tätlichkeiten. Eine Stunde lang wurde Lessing durch die Stadt getrieben und verfolgt. Die Vorlesungen am 17. Mai (Exkursion) und 24. Mai (Pfingsten) fielen aus, am 31. Mai fanden die bis dahin schwersten Krawalle statt. 700 Korpsstudenten belagerten mit Eichenstöcken die Universität und skandierten “Lessing raus. Jude raus!”. Diese Forderung vertraten auch zahlreiche Kollegen Lessings. Die Zahl der offensichtlichen Gegner Lessings überstieg die seiner Fürsprecher um ein Vielfaches. Zu den Sympathisanten gehörten neben den Sozialdemokraten auch die Kollegen Leopold von Wise und Kaiserwaldau, August Messer (Gießen) und Hans Driesch (Leipzig) sowie einige studentische Gruppierungen von anderen Universitäten, unter ihnen auch der Republikanische Rechtsbund Jena.

Da die jüngsten Unruhen noch immer keine Wirkung zeigten, organisierten die nationalen Studenten am 8. Juni 1926 den “Exodus nach Braunschweig”. 1300 der insgesamt 1500 Studenten beteiligten sich an dem Streik. Die Forderung nach einem Ausschluß Lessings beim Kultusministerium in Berlin wurde nun auch von den Professoren, städtischen Einrichtungen, dem Bürgervorsteherkollegium und den Zimmerwirten mitgetragen, die allesamt finanzielle Ausfälle befürchteten, sollte Lessing weiterhin an der Universität lehren. Am 18. Juni 1926 gab der Kultusminister Carl Heinrich Becker, der bislang mit der Gesetzeswidrigkeit des Vorhabens und der akademischen Freiheit argumentiert hatte, dem Druck nach. Der Lehrauftrag wurde in einen Forschungsauftrag umgewandelt. Theoretisch blieb die venia legendi zwar erhalten, praktisch sah Lessing aber keinen deutschen Hörsaal mehr von innen. Die Studenten hatten erreicht, was sie wollten.

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