Elternhaus & Jugend

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Elternhaus und Jungendzeit

Als Theodor Lessing am 8. Februar 1872 in Hannover zur Welt kam, glich die Stadt noch dem Bild der kleinen gemütlichen Sommerresidenz, die das Königreich Hannover bis zum verlorenen preußisch-österreichischen Krieg 1866 war. Hainholz, Vahrenwald, Ricklingen, Döhren und Limmer bildeten die umliegenden kleinen Dörfer mit vorwiegend bäuerlicher Struktur. Hannover war eine Stadt im Grünen, an drei Seiten von Wäldern umgeben, während sich nach Süden hin das fruchtbare Maschland erstreckte, durchzogen von den drei Flußläufen Leine, Aller und Ihme. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zerriß die Dampflok der Industrialisierung die Ruhe in der verschlafenen Stadt zwischen Leine und Aller, ließ Maschinen rattern, Fabriken aus dem Boden wachsen, und die Kohlenschlote endlose Qualmwolken in den Himmel blasen. Die Menschen strömten nach Hannover, und schon bald wandelten sich die umliegenden Dörfer zu reinen Schlafstätten der Fabrikarbeiter und zu Industriegebieten.

Die Familie Lessing, seit Generationen in Hannover ansässig, besah sich die Entwicklung aus der Sicht des liberalen, auf der Woge des Wohlstands lebenden Bürgertums. Die Mutter Theodors, Adele Ahrweiler (1848-1926) entstammte einer reichen Bankiersfamilie in Düsseldorf, der Vater Sigmund (1838-1896) gehörte zu einer hannoverschen, nach der preußischen Annexion 1866/67 ruinierten, jüdischen Bankiersfamilie und war selbst gelernter Arzt. Mehr noch trat Sigmund Lessing durch seinen Hang zum Lebemann in Erscheinung. Die Heirat mit Adele wurde eher aus finanziellen denn aus emotionalen Gründen geschlossen. Bis zuletzt soll er dem Schwiegervater Ahrweiler das Angebot unterbreitet haben, die jüngere (und hübschere) Schwester von Adele zu nehmen, doch dieser lehnte entschieden ab, zumal Sigmund Lessing bereits die Hälfte der 100.000 Reichsmark großen Mitgift an der Börser verspekuliert hatte. Als die widerwillig geheiratete Adele auch noch mit Theodor schwanger wurde, war der Grundstein für das gestörte Familienverhältnis Theodors gelegt. Der herrschsüchtige, unberechenbare Vater liebte den Sohn so wenig wie seine Ehefrau, und diese leistete keinen Widerstand sondern fügte sich ihrem Schicksal. Spielten die Kinder Theodor und die um ein Jahr jüngere Schwester Sophie (1873-1962) „Vater und Mutter“ kratzten sie sich, bis sie bluteten.

Was innerhalb der Familie nicht zu verwirklichen war, sollte wenigstens nach außen hin als Fassade vom perfekten Familienleben gewahrt werden. Zahlreiche Bedienstete standen bei der Familie Lessing in Lohn und Brot, doch der Prunk der Kaiserzeit war auf einen hohen Schuldenberg gebaut.

Auch die Schule vermochte Lessing keine angengehme Abwechslung zum verachteten Elternhaus zu sein. Beide, die Eltern und die Schulzeit, bezeichnete Lessing später als „die zwei Höllen meines Lebens“. Zweimal mußte er die Klasse wiederholen und in einer Mischung aus Widerwillen und Versagerangst impfte sich die immer wiederkehrende schlechte Beurteilung seiner Lehrer in sein Bewußtsein ein: „Nicht schulgemäß“. An dem herkömmlichen Unterricht fand er keine Freude, statt dessen träumte er von der Natur, begann kleine Gedichte zu schreiben und philosophische Werke zu lesen. Erst in dem gleichaltrigen Ludwig Klages (1872-1956), einem großen, blonden Jungen aus seiner Straße, in dessen Klasse er 1885 zurückversetzt wurde, fand er einen anerkannten Gleichgesinnten. Während die Klassenkameraden sich die Zeit spielend auf den Hinterhöfen vertrieben, spazierten Klages und Lessing diskutierend durch Hannover und tauschten philosophische Methoden und Ansichten aus.

Die Schauspielerin Margarethe Ehrenbaum, eine Freundin der Familie, holte Lessing 14jährig erstmals aus der räumlichen und geistigen Enge seines Elternhauses heraus zu sich nach Berlin. Sie verstand die Interessen des jungen Lessing weit besser als seine Eltern und ermutigt ihm zum Schreiben. Auf den gemeinsamen Reisen mit Margarethe knüpfte Lessing erste Kontakte und entwickelte ein besonderes Interesse für das Theater. Außerhalb ihrer Treffen standen Lessing und seine „Ersatzmutter“ Margarethe im engen Briefkontakt zueinander. Als der Schüler zum zweiten Mal die Klasse wiederholen mußte, nahm der Vater Theodor auf Anraten der Lehrer von der Schule. Die begonnene Lehre in der Gartenschule und bei einem befreundeten Bankier scheiterten jedoch ebenfalls, so daß Lessing auf das Gymnasium zurückkehrte, diesmal jedoch außerhalb Hannovers, in Hameln. Mithilfe seines dortigen Lehrers Dr. Schneidewin, dem ersten Lehrer, der Lessings Talent erkannte und förderte, bestand er 1892 sein Abitur.

Noch immer unter der Bevormundung des Vaters stehend nahm er im Wintersemester 1892/93 sein Medizinstudium auf. Nach dem Staatsexamen, so plante es der Vater, sollte Theodor die Praxis in Hannover übernehmen. Die einzige Option, die ihm gewährt wurde, war die freie Wahl seines Studienortes. Lessing entschied sich für das sechshundert Kilometer entfernte Freiburg. Nach einem Universitätswechsel 1893 schloß er 1894 sein Doktorexamen mit Auszeichnung in Bonn ab. Doch auf dieses Etappenziel folgte ein Zusammenbruch. Sein physisch schon immer anfälliger Körper hatte dem permanenten Lernstreß und psychischen Belastungen nicht länger standgehalten. Lessing legte ein Urlaubssemester ein und reiste zur “Selbstfindung” in die Berge, wobei er bereits eines sicher wußte: neben den psychischen Bedenken war auch seine körperliche Verfassung nicht gerade vorteilhaft für ein Leben als Arzt.

Einige Monate später starb jedoch Theodors Vater und damit auch die Diskussion um die Praxisübernahme. So war ein Problem erledigt, doch die finanzielle Zukunft des Medizinstudenten war ungewisser denn je. Als sein Düsseldorfer Großvater ihm Unterstützung zusicherte (in jüdischen Familien war es durchaus üblich, einen “Künstler” in der Familie finanziell zu versorgen), beschloß Lessing sich seinen eigentlichen Interessensgebieten zuzuwenden und in München Psychologie und Philosophie zu studieren. In München traf er auch seinen Freund Ludwig Klages wieder, der ebenfalls von Dresden hierher gewechselt war. Über ihn fand Lessing Zugang zu den literarischen Kreisen Schwabingens, doch schon bald wurde die Entfremdung der beiden Jugendfreunde in ihren philosophischen Überzeugungen wie ihrer persönlichen Entwicklung unübersehbar. Der wachsende Antisemitismus trieb seinen Keil immer tiefer zwischen Ludwig Klages und den “Juden” Lessing. Die bissigen Satiren Lessings in seinen Zeitungsartikeln über die Schwabinger Debattierclubs, denen Klages und seine Freunde angehörten, leisteten ihr übriges. Dennoch wollte Lessing die Veränderung nicht wahrhaben, während sich Klages zusehends bedrängt und eingeengt fühlte. Im Herbst 1899, nachdem Lessing in Erlangen seine Promotion zum Doktor der Philosophie abgeschlossen hatte, schrieb Klages seinen Abschiedsbrief an Lessing. Das Scheitern der Freundschaft blieb für Lessing zeitlebens eine nicht verheilende Wunde. Zu einer Aussprache zwischen beiden kam es nicht mehr.


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